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Freitag der dreizehnte

Sie war 70, 80; vielleicht sogar 85. Sie saß in der U-Bahn und wartete darauf, daß der Zug losfahren würde. Sie saß da schon seit fünf Minuten; es war ein End-Bahnhof. Sie guckte verbittert und intolerant, so wie es sich für ihr Alter gehört.
Dann kam er. Er war vielleicht eine Woche älter oder jünger als sie. Mit dem selben Blick ging er an den Plätzen und an ihr vorüber, während sie ihn, ohne dabei den unfreundlichen, intoleranten Blick zu ändern, musterte, doch keiner der vielen Plätze schien ihm so recht zu gefallen. Er wollte sich in den Türraum stellen, zögerte aber, kam wieder zurück und setzte sich ihr gegenüber.
Ihre Blicke trafen sich und zuckten erschrocken weiter. Sie fixierte die Fensterscheibe, er eine Halteschlaufe. Von Fensterscheibe und Halteschlaufe sprangen die Blicke zu Sitzpolster und Schuhen des Gegenübers. Wieder sahen sie sich in die Augen. Länger als das erste Mal. Ewig lange. Fast eine halbe Sekunde. Er begann hektisch umherzusehen, fixierte dies und das. Ihr Blick lag wieder auf dem Fenster.
Sie sahen einander heimlich an, immer wenn der andere nicht schaute. Trafen sich ihre Augen, erschreckten sie sich und sahen mit gemischten Gefühlen weiter. Dies praktizierten sie eine Zeit lang bis sie einander resistent waren. Sie sahen sich sekundenlang in die Augen. Ihre Gesichter waren eisig, wenngleich sie nervös zuckten.
Er hielt es nicht mehr aus und drückte dies mit einem nicht hörbaren Seufzer deutlich aus. Ein Ruck. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, seufzte resigniert noch einmal und ließ die Lippen wieder aufeinanderfallen.
Einen Augenblick schien sie beinahe zu lächeln. Doch eine Traurigkeit löste dieses Lächeln von Innen auf. Einen kurzen Moment lang leuchteten ihre Augen und wurden dann ganz trüb; trüber als zuvor. Sie schaute auf seine Hände, die zusammengefaltet auf seinem Schoß lagen, sich plötzlich zusammenreißend um wieder stark und intolerant in die Fensterscheibe zu sehen.
Er machte ein ausdrucksloses Gesicht und sah ins Leere.

Aus der Ferne hörte er sie etwas sagen. Die Worte klangen in seinem Kopf nach. "Hast ja lange auf dich warten lassen." Was konnte er denn dafür. Wäre es nach ihm gegangen wäre er nie in Rußland gewesen. "Der Krieg ist doch schon ne Weile her." Sagte sie. Er schwieg. Er sah sich damals nach seiner Flucht; wie er zwölf Jahre nach Kriegsende vor ihrer Tür stand und sein Name stand auf dem Klingelschild. "Wir sind jetzt verheiratet." hörte er ihre Stimme, ihre Stimme vor 50 Jahren. Er sah 40 Jahre Einsamkeit, die er in seiner Einzimmerwohnung fristete. "Warum bist du nicht zurückgekommen?" fragte seine Frau. Warum? Ja, das wüßte er auch gerne. Warum? Er hatte drei Stunden im Treppenhaus gesessen und gewartet, bis sie mit einer Einkaufstüte die Treppe heraufkam. Bildhübsch war sie, und gut gekleidet. Sie schloß ihre Tür auf und war verschwunden. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Ihn, den zerlumpten Hungernden, der sechs Stufen höher saß. Warum? Zwei Wochen hatte es gedauert, bis er ihre Adresse gefunden hatte. Zwei Wochen Heilsarmee; es sind dann sieben Wochen geworden, bis er eine Arbeit, einen Paß und eine Wohnung hatte. Warum? Er dachte jeden Tag nur an sie; oft ist er ihr begegnet, in der Fußgängerzone oder im Kaufhaus wo er die Waren einsortierte. Er hat sie heimlich beobachtet, wie elegant sie sich bewegte, immer gut gekleidet. Doch mit der Zeit schien ihr die Leichtigkeit von den Schultern zu fallen und mit mächtigen Gewichten daran zu ziehen. Sie wehrte sich grandios dagegen; wenn man nicht genau hinsah bemerkte man es nicht. Er war stolz auf sie.

Der Zug stand im End-Bahnhof. Ohne ein Wort gesagt zu haben stand sie auf, sah ihm in die Augen und ging resigniert nach hause.
Er saß da schon seit fünf Minuten; es war ein End-Bahnhof.

[13.2.98]

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